Normalität

Vor wenigen Tagen hat der Schweizerische Bundesrat fast alle Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie für beendet erklärt. Der Sprecher von ‘10 vor 10’ von SRF hat am selben Abend vom Weg zurück zur Normalität gesprochen. Niemand weiss, wann genau die Pandemie zu Ende sein wird und wann wir wieder von Normalität sprechen können. Wir wissen jedoch, dass die Pandemie unsere Gesellschaft durchgeschüttelt hat und dass das, was vor der Pandemie als normal galt, nach der Pandemie nicht mehr als normal gelten wird. Die Pandemie hält uns einen Spiegel vor, in dem wir sehen, was uns zusammenhält und was uns auseinandertreibt, wie wir miteinander und mit den sozialen und individuellen Gefährdungen unseres Lebens umgehen und wie wir als Gesellschaft zum Handeln kommen.

Was wir im Spiegel sehen

  • Die Einen, die wenigen, erfreuen sich über den Börsenboom und die Gewinne aus ihren Anlagen, während viele andere kaum mehr wissen, wie sie ihre Mieten und ihre Krankenkassenprämien bezahlen sollen oder gar auf Nahrungsmittelpakete von Caritas angewiesen sind.
  • Die Einen, auch Leute in hoher gesellschaftlicher und politischer Stellung, reden von «Durchseuchung» und «Kollateralschäden», die es zu akzeptiere gelte, während die Anderen darauf aufmerksam machen, dass ältere Menschen oder Menschen mit gesundheitlichen Risiken eine genau gleiches Recht auf Leben haben wie alle anderen.
  • Die Einen – viele Jungen – sind solidarisch, übernehmen Verantwortung und kaufen für gefährdete Nachbar:innen ein, vermitteln Haushalthilfen oder sammeln gar Gelder via «crowdfunding» für Menschen, die finanziell am Anschlag sind, während sich andere, in der Verantwortung für sich selber, wie es in der Bundesverfassung steht, über den Verlust ihrer Freiheiten, das zu tun, was ihnen beliebt beklagen und sich mit Trychlen und Glocken auf Plätzen tummeln und um Feuer tanzen.
  • Die Einen wenden sich enttäuscht von den Behörden, der Politik und der Wissenschaft ab und flüchten in parallele Welten auf der Suche nach dem Hintergründigen, den alternativen Wahrheiten und neuen Gewissheiten, während die Anderen froh sind um die von der Wissenschaft gelieferten Erklärungen und Impfstoffe und sich etwa fragen, warum die verordneten Massnahmen hier zu Lande nicht strenger ausfallen.
  • Die Einen – Skeptiker:innen, Massnahmegegner:innen, Verschwörungstheoretiker:innen – beklagen die Spaltung der Gesellschaft und wähnen sich als Opfer der Politik, der Behörden und der Mehrheit der Bevölkerung, gezwungen, sich testen zu lassen oder- ohne Zertifikat – vom öffentlichen Leben ausgeschlossen zu sein, während die anderen, die Mehrheit, die Einschränkungen als Schutz der Gesundheitsversorgung, aber auch der besonders Gefährdeten, der Risikopatient:innen, aber auch der Nichtgeimpften verstehen, ebenfalls ganz im Sinne der Bundesverfassung, die jede Person aufruft nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beizutragen.

Wir erinnern uns sehr gut

Kurz nach Beginn des ersten «lock down» tauchte die Frage auf, wie wohl das neue Normal aussehen würde. Würde die grosse Solidarität – vor allem vieler junger Leute mit den älteren und gefährdeteren Semestern – ein neues Markenzeichen unseres Zusammenlebens sein?

Über die verschiedenen Pandemiewellen hinweg ist vieles normal geworden, wir waschen uns selbstverständlich häufig die Hände, grüssen uns mit einer Faust oder mit dem Ellbogen. Inzwischen ist sogar das Maskentragen zu einer Routine geworden. Wir haben uns an die regelmässigen Demonstrationen der Massnahmegegner:innen und an das neue Image, das sich die Trychler – fast ausschliesslich Männer – gegeben haben, gewöhnt. Die Gelder von Bund und Kantonen inkl. Kurzarbeitsentschädigung fliessen fast unbemerkt und die Medieninformationen von BAG und Bundesrat gehören zum täglichen Ritual.

Was neu oder was anders sein könnte

Mit der Lockerung der Massnahmen freuen wir uns selbstverständlich auf die wiedergewonnenen Möglichkeiten, uns ohne Beschränkungen treffen und miteinander Party machen zu dürfen. Wir beginnen zu erkennen, was neu oder was anders sein könnte:

  • Wir haben erfahren, wie die Pandemie das Pflegepersonal – und nicht zu vergessen die vielen Putzfrauen und -männer – in den Spitälern an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gebracht hat und dass unsere Spitäler nicht ohne die Tausenden von Fachleuten aus den Nachbarländern auskommen. Auch dank der Pflegeinitiative werden Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal wichtiger.
  • Wir haben gesehen, dass die Pandemie, so das Onlinemagazin Republik am 16.2.22 der Wissenschaft grosse Sprünge erlaubt hat, denken wir an das gesteigerte Tempo, in welchem heute Wissenschaftler:innen ihre Resultate öffentlich verfügbar machen, diskutieren, allenfalls verwerfen oder begutachten und publizieren lassen. Oder die mRNA-Impfungen, die bald gegen andere Krankheiten eingesetzt werden könnten. Sowie die gesteigerte Aufmerksamkeit für chronische Krankheiten.»
  • Wir haben auch erfahren, wie verletzlich die weltweiten Warenströme und Lieferketten sind und dass die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern teilweise von wenigen Produktionsstätten in fernen Ländern abhängt. Die Absichten, Grundstoffe für Medikamente oder Computerchips in Europa herzustellen, sind Beispiele dafür, dass das Dezentrale verlässlicher und letztlich ökonomischer ist als das zentrale und vermeintlich billigere. Die Ökonomen werden die sogenannten Skaleneffekte wohl neu ermitteln müssen. Grösser ist nicht (mehr) immer besser, weniger gross kann qualitative Vorteile bieten, eben zum Beispiel eine grössere Versorgungssicherheit.
  • Wir haben gelernt, dass Viren keine Staatsgrenzen kennen, dass Mutationen überall geschehen können, vor allem dort, wo Mittel fehlen, rasch über den nötigen Impfstoff verfügen zu können. Und, wo Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weil sie vielerorts wegen der Einschränkungen ihre Erwerbsquellen verloren haben, sind sie gezwungen, anderswo ein Auskommen zu finden. Sie migrieren. Oder sie bedürfen humanitärer Hilfe «vor Ort». Die lobenswerten Bemühungen der WHO, mit dem CoVax-Programm allen Menschen Zugang zu Impfstoff zu verschaffen, ist an den nationalen, egoistischen Politiken und Interessen – Stichwort Patentschutz – gescheitert. Die einzelnen nationalen Politiken und Massnahmen greifen nur dann, wenn sie sich nach international vereinbarten Zielen richten und koordiniert sind. In Zeiten der Klimakrise ist dies eine der wichtigsten Einsichten.

Mit der Pandemie haben wir ein anderes Bild unserer Gesellschaft gewonnen. Sowohl die Solidarität untereinander als auch der bröckelnde Kitt zwischen Gesellschaftsgruppen sind Teil einer neuen oder neu erkannten Wirklichkeit.

Es gibt kein neues Vorher

Unsere Gesellschaft ist eine andere geworden, wir haben erkannt,
… dass wir als Menschen in der Schweiz Teil der globalen Gesellschaft sind und dass es uns nicht egal sein kann, wenn das Virus irgendwo auf der Welt, oder auch mitten unter uns, weitere Menschen infiziert, oder, um zum Klima zu kommen, die Erhitzung der Atmosphäre Millionen von Menschen auf die Flucht, auch zu uns, treibt;
… dass es, wenn der innere Kitt bröckelt, eine Debatte darüber braucht, wie denn der Kitt beschaffen sein soll, wie wichtig uns beispielsweise die Gesundheit aller für ein gutes Leben ist;
… dass Freiheiten nie absolut sind, sich die eigenen Freiheiten an denjenigen der anderen messen und wir entsprechend Verantwortung individuell und für die Gemeinschaft, das Gemeinsame tragen. Dies hat uns das Maskentragen gelehrt: Wir schützen primär den oder die Nächste und erst in zweiter Linie uns selber; und
… dass es keine Normalität ein für alle Mal gibt, dass sich das, was wir als normal bezeichnen, in einem steten Wandel befindet und immer wieder neu ausdiskutiert werden muss.

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